13. Queerschlag-Geburtstag: Zwischen Heringsdorf und Swinemünde

Da war sie wieder, die Kilometerlüge! Aber der Reihe nach: Am Anfang stand eine jedes Jahr erneut zu treffende Entscheidung: Wohin sollte Die Queerschlag-Geburtstagsreise diesmal gehen?

Zur Wahl standen verschiedene Ziele mit und ohne Traditions-Schmalspurbahn. Die Tradition war den meisten diesmal schnuppe. Es sollte nach dem schönen Seebad Ahlbeck gehen. "Wo die Häuser so bequem sind und die Flundern so gut!", wie der Berliner Trikotagen-Fabrikant Wilhelm Giesecke, Patentinhaber der Hemdhose "Apollo - in einem Stück, vorne zu knöppen", bei Ankunft "Im weißen Rößl" stets zu sagen pflegt. Diesem Hinweis rechtzeitig folgend, blieben uns zumindest alpenländisch-operettenhafte Szenen am Ostseestrande entsprechend erspart.

So ganz ohne jeden Bezug zum unterhaltungskulturellen Erbe Deutschlands sollte die Reise aber nicht bleiben. Zum Abendessen ging es nämlich, nachdem alle in der eines Kaiserbades angemessenen Villa Seeschlösschen versammelt waren, auf die Ahlbecker Seebrücke. Da, wo "Mutter Ihren Achtzigsten gefeiert hat", wie Christoph anmerkte. Die Lokalität hat seit dem Filmdreh von "Papa ante Portas" nicht unbedingt an Charme gewonnen, muss man leider sagen. Dafür sind dort mehr unterschiedliche Leuchtmittel im Einsatz als Lichthaus Mösch jemals wird liefern können. Besonders gelungene Beispiele, was das EU-Verbot der Glühbirne bewirken kann, waren die LED-Innovationen in Tropfenform in den Deckenleuchtern und die blauen Jugendstil-Tageslicht-bio-aktiv-Lampen auf dem Fensterbrett.

Christoph unterbrach meinen Gedankenfluss: "Wird jetzt endlich mal auf mein Wohl angestoßen?!" - es sollte nicht das letzte Filmzitat an diesem Abend sein. Serviert wurden von einem flinken spanischen Kellner, der beim Anblick so vieler Homos erfreut zu Hochtouren auflief. Diverse Fischspezialitäten, auf Nachfrage alles fangfrisch natürlich, und auch ein paar dressierte Salatblätter wurden gesichtet. Den Freitagabend wollten wir gegen 22.00 Uhr mit einem Cocktail beschließen, aber die von Qype vorgeschlagene Lokalität namens "Café Les Bagages" hat die großstadtverwöhnte "Bagage" dann doch nicht überzeugt, so dass die Herrschaften und eine Dame alsbald geruhten, sich zurück zu ziehen.

Adrian & Stefan, Michael, Christoph & Oz bevorzugten zur Seeseite hin zu nächtigten, Marcus S. & Martin H., Florian & Jens sogar deluxe. Huguette, Germar, Marcus L. & Kai legten sich landseitig zur Ruhe. Ich, Andreas und Xavier wohnten Souterrain bei Onkel und Tante in der Siedlung am Bahnhof. (Zu DDR-Zeiten war Verwandtschaft an der Ostsee ein glücklicher Umstand, der einem von den raren Plätzen in FDGB-Ferienheimen unabhängig machte, aber das ist eine andere Geschichte.)

Der Samstagmorgen begann hier wie da mit einem Frühstück und der Hoffnung, der Himmel möge tagsüber doch aufreißen. Die Aktivisten Michael und Christoph - an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für die Organisation der Wanderfahrt! - verkündeten dem Kollektiv zunächst das Planziel "Besuch des polnischen Brudervolkes" und wiesen den Weg zur Zielerreichung, zunächst über die Promenade und dann immer am Strand entlang. Der Grenzübertritt gestaltete sich unspektakulär. Diverse iPhones zeigten einen unterschiedlichen Grenzverlauf, wer statt auf den Bildschirm in die Landschaft schaute, sah hingegen sofort, dass da wo Polen ist, die Dünen eingezäunt sind, ganz einfach.

Ein Spaziergang durch Swinouscjie (dt. Swinemünde) bot städtebaulich längst vergessen geglaubte Impressionen aus der Nachwendezeit, nur dass die Straßen weder nach Clara-Zetkin, noch nach Käthe Kollwitz oder Ernst Thälmann, benannt waren, sondern nach entsprechenden polnischen Volksheldinnen und -helden. Die Häuser alt und grau neben wärmegedämmt und plastebefenstert. Das Hotel ALGA scheint trotz seines sozialistischen Charmes noch heute Gäste zu beherbergen. 

Eine Bäckerei mit einigen Kaffeehaustischen unter Neonröhren weckte unsere Neugier. Vielleicht war es nach fünfeinhalb Kilometern Wanderung auch der kleine Hunger, der uns hineingehen ließ. Die freundliche junge Dame, die bis dahin allein da saß und in Ihrem Buch las, brühte Tasse um Tasse Kaffee und reichte sehr bunte, sehr süße und sehr sahnige Torten und Fettgebackenes über die Theke. Neu für uns war die Bezahlung nach Gewicht und dass man sogar in Euro zahlen konnte. Martins Augen waren größer als der Magen. Oder lag es daran, dass das, was nach Nuss und Schokoladencreme aussah, nach Kaffee schmeckte?

Einige unserer Aktivisten hatten da bereits genügend Eindrücke sammeln können und machten heimlich wieder rüber, einer widerstand nicht der preiswert-attraktiven polnischen Bademode, die abends noch zur Schau gestellt werden sollte. Andere suchten vergeblich die große Fähre, die nach Angaben meines Onkels täglich um halb Zwei Swinemünde gen Schweden verlassen sollte. Ein erstes Gruppenfoto ward geschossen und weiter ging es. Am Hafen entlang, vorbei an imposanten, bunt balkonierten Plattenbauten zu den verfallenen Festungsbauwerken, die einstmals die Swinemündung gegen Schweden oder sonst wen haben verteidigen sollen. Die am Ufer der Swine liegenden Eisschollen ließen sich mühelos erobern. Die Sonne wagte endlich einen Blick durch die Hochnebeldecke. 

Bei Kilometer Neun begann ein langer Rückweg immer geradeaus, dem Strand folgend. Die Gruppe, noch immer angeregt plappernd (ja, Eva, auch die Jungs können mehr als 500 Worte am Stück reden) zerfiel so nach und nach in kleine Grüppchen. Weiter vorne hieß es bereits, es sei nicht mehr weit, weiter hinten, wie weit es denn noch sei. Zahlen kursierten unterschiedliche, aber Schnappbojen tauchten zum Glück nicht auf. Nach fünfzehneinhalb Kilometern war die Villa Seeschlösschen in Sicht. Dort hieß es "Pack die Badehose ein", denn es galt in der Ostseetherme, fast schon in Heringsdorf gelegen, die neueste Bademode vorzuführen. Dummerweise war niemand anwesend, der sich auch nur ein bisschen dafür interessiert hätte. 

Dafür entdeckten wir die erste Dampfsauna im wegweisenden IKEA PS Design - eine leicht abwischbare Vollkunststoffeinrichtung im Flugzeugkabinenlook. Doppelsitzbänke, alle Ecken abgerundet und neben der Tür ein Einzelplatz für die Stewardess (nicht im Lieferumfang enthalten). Sensationell! Weniger schön war das Glatteis im Außenbereich und das feuchtem Toilettenpapier ähnliche Stückchen Vlies, das mir der Bademeister in die blutende Hand drückte. Geblieben ist ein vier Zentimeter langes Souvenir.

Die ausgelassene Stimmung beim anschließenden gemeinsamen Abendessen in der "Meereswelle", an Ahlbecks s chönstem Platze gelegen, lässt sich schlecht in Worte fassen, Bilder finden sich in der FotogalerieGehn'se ma' hin, da gibt et ooch Flundern und andere jebratene Meeresbewohner! 

Der Sonntag bot dann ein Kontrastprogramm in Peenemünde: Was aussieht wie ein ganz normales Kohlekraftwerk aus den Vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, ist das übrig gebliebene Zeugnis der imposanten und zugleich erschreckenden Geschichte deutscher Raketenforschung auf der Insel Usedom. Wie harmlos sieht doch diese schwarz-weiß karierte Rakete aus. Den Gedanken "was wäre geworden, wenn…" hat sicher nicht nur mich noch eine Weile beschäftigt. Und Hergés Comic "Tim und Struppi auf dem Mond" werde ich wohl nicht mehr so naiv lesen wie früher.

Das auf dem Rückweg in Karlshafen verzehrte Fischbrötchen half schließlich wieder im Heute anzukommen. Mit ein-, zwei- und dreifachen Umarmungen verabschiedeten wir uns. Zurück blieb die Frage: Nächster Queerschlag-Geburtstag - Berge oder Meer?

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